Internationale Konferenz: Muslime zwischen Tradition und Moderne Institut für Religionswissenschaft der Universität Potsdam,

Dr. Michael Blume – Die Gülen-Bewegung und die Wissenschaft, 27.05.2009

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ZUSAMMENFASSUNG

Gelehrte monotheistischer Religionen betonen regelmäßig, dass es zwischen den Erkenntnissen von Religion und Wissenschaft letztlich keinen Widerspruch, sondern allenfalls zeitliche Missverständnisse oder ideologischen Missbrauch geben könne. Unter den besonderen Bedingungen der religionsfeindlichen Politik der frühen, türkisch- nationalistischen Staatseliten hat der islamische Prediger Fethullah Gülen diese Position nicht nur bekräftigt, sondern seinen Anhängern wiederholt empfohlen, ihr Engagement auf die Förderung von Bildung und Wissenschaft in der Türkei und dann weltweit zu konzentrieren. Die Bejahung rationaler Erkenntnis und disziplinierter Lebensführung soll dabei durch eine intensive, auch im Dialog mit anderen Religionen zu pflegende Spiritualität, der moderne Individualismus durch religiöse Gemeinschaft ausbalanciert werden. Die Pflicht zu Wissenserwerb und religiösem Engagement betrifft Frauen und Männer, jüngere wie ältere Menschen gleichermaßen. Lehrkräften und Förderern von Bildung und Wissenschaft wird besondere Wertschätzung entgegen gebracht, statt einer Apokalypse eine optimistische Zukunft der Wissenschaft und des Dialoges entworfen. Auch aufgrund der Beiträge der Bewegung zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stabilisierung von Bildungs- aufsteigern und Umgebung genießt sie wachsende Anerkennung als Teil freiheitlicher Zivilgesellschaften, wird aber weiterhin von türkischen Nationalisten und religiösen Extremisten attackiert. Religionssoziologisch weist sie interessante Parallelen zum christlichen Pietismus auf. Die Frage, ob sie auch eine konstruktive Debatte über die bzw. mit der Evolutionsbiologie zulässt, dürfte wesentlich darüber entscheiden, ob die Gülen-Bewegung ihren hohen Standard im Dialog zwischen Religion(en) und Wissenschaft auch im 21. Jahrhundert ausbauen kann.

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Einführung: Die Lebenswelt von Fethullah Gülen

Wer die besondere Haltung der Gülen-Bewegung zu Fragen der Wissenschaft und Bildung erfassen möchte, sollte von der Lebenswelt ausgehen, in der der 1941 geborene, islamische Prediger Fethullah Gülen geprägt wurde. Das islamisch-multireligiöse Osmanische Reich war über Jahrhunderte hinweg zerfallen und die Eroberung der Türkei durch christlich-europäische Mächte nur aufgrund eines nationalen Befreiungskampfes vereitelt worden. Die nun herrschenden Nationalisten machten einerseits die ethnisch-religiöse Vielfalt, andererseits aber auch die traditionalistische Haltung islamischer Geistlicher für den wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und zuletzt politisch-militärischen Niedergang des Osmanischen Reiches verantwortlich. Entsprechend brutal gingen sie sowohl gegen religiöse und ethnische Minderheiten wie auch gegen nichtstaatliche, islamische Gemeinschaften und Gelehrte vor. Sie errichteten an deren statt mit der Religionsbehörde (heute Diyanet) die Struktur einer Staatskirche, die der nationalen Vereinheitlichung und autoritären Kontrolle der Religionsausübung verpflichtet wurde. Mit einer lateinischen Schriftreform wurde das literarische, osmanische Erbe praktisch abgeschnitten und mit der staatlichen Schulpflicht ein neuer, nationalistisch- säkularer Wissenskanon etabliert. Plötzlich erwarben große Teile der jüngeren Generation mehr säkulare Bildung, als ihren Eltern oder Großeltern je möglich gewesen wäre – eine Situation, die heute auch in Deutschland besteht -, was dörfliche und familiäre Beziehungen, Traditionen und Identitätserzählungen massiven Belastungen unterwarf. Islamischer Religionsunterricht wurde erst zur Abwehr linker Ideologien und zur Ruhigstellung der jungen Generationen wieder eingeführt: Dann aber auch gleich für alle, auch Nichtmuslime, verpflichtend und in Form einer „türkisch-islamischen Synthese“, die den Nationalismus und die Herrschaft des Militärs verherrlichte. Die Haltung großer Teile der türkischen Staatseliten gegenüber religiös praktizierenden Türken (sowohl muslimischen wie noch stärker nichtmuslimischen Glaubens) war und ist zum Teil bis heute von einer Mischung aus Verachtung und Furcht bestimmt

– was zur wiederholten Missachtung und Aushöhlung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards durch genau jene Nationalisten führte und führt, die sich doch eigentlich als „westlich“ und „fortschrittlich“ verstehen wollen.1

Die Antwort von Fethullah Gülen

Anregungen von Said Nursi aufnehmend, sah der anfangs bei der Religionsbehörde arbeitende Prediger Fethullah Gülen die Schuld und Verantwortung sowohl für die wissenschaftliche Erstarrung wie für die religiösen und interreligiösen Spaltungen der osmanischen Spätzeit nicht zuerst bei anderen. In einem offenen Brief an Papst Johannes Paul II., den er dann auch traf, formulierte er später: „Der Islam ist eine missverstande Religion, und verantwortlich dafür sind in erster Linie die Muslime. [… ] Zuweilen hat die Menschheit die Religion im Namen der Wissenschaft geleugnet, genauso wie sie umgekehrt auch die Wissenschaft im Namen der Religion geleugnet hat.

Die beiden seien nicht miteinander vereinbar, wurde behauptet. Dabei gehört doch alles Wissen Gott, und die Religion stammt von Gott. Wie können Religion und Wissenschaft also im Widerspruch zueinander stehen? Vielleicht erreichen mit unseren gemeinsamen Anstrengungen für den interreligiösen Dialog und für Verständigung und Toleranz zwischen den Menschen ja, dass sich diese Einsicht irgendwann durchsetzen wird.“2

Dass es zwischen den Religionen einerseits und Religion und Wissenschaft anderseits keinen unauflösbaren Widerspruch, sondern allenfalls vorläufige Missverständnisse oder bewussten Missbrauch gebe, ist dabei keine „Erfindung“ Gülens, sondern etablierte und durch die Jahrhunderte immer wieder bekräftigte Überzeugung aller monotheistischen Religionen. Auch von ihm benutzte Sprachbilder, wonach der Glaubende „auch im Buch der Natur lesen“ und darin Gott suchen solle, sind beispielsweise von christlichen und jüdischen Theologen ebenfalls vielfach belegt.3

Die eigentliche Frage ist, wie diese Überzeugung konkret umgesetzt wird: Wird gefordert, dass die Wissenschaft nur Erkenntnisse zu erbringen habe, die die religiösen Traditionen bestätigen – oder werden die Anhänger aufgefordert, vermeintliche Widersprüche auszuhalten oder gar zu bearbeiten? Die originelle Antwort Fethullah Gülens, die seine Bewegung zu einer der global einflussreichsten, islamischen Reformbewegungen unserer Zeit gemacht hat, bestand in einer dritten Option: Die Glaubenden sollen wissenschaftliche Erkenntnis durch Bildung nicht nur ertragen, sondern aktiv suchen und fördern.

Es mangele den Muslimen nicht an Moscheen und Religionsgemeinschaften, sondern an Schulen, Akademien und Universitäten samt Stipendien für arme, aber begabte Aufsteiger.

Der von manchen Gegnern genüsslich ausgebreitete Umstand, dass Gülen selbst nie eine höhere, akademische Laufbahn durchlaufen hat, unterstreicht dabei genau den Punkt: Das Vorbild ihres Lehrers („Hodscha“) verpflichtet jeden Mann und jede Frau, Jüngere und Ältere, formal Nicht- oder Hochgebildete gleichermaßen. Jeder kann ein Leben lang Bildung suchen, erwerben und fördern, keiner sich mit mangelnden Voraussetzungen begnügen. Umgekehrt kann sich aber auch keiner mit einem akademischen Titel zum besseren Menschen erklären, solange es an spiritueller und persönlicher Bildung mangelt.

Beispiele Kopftuch, Dschihad, Terror, Krieg der Zivilisationen

Um es an zwei konkreten Beispiel fest zu machen: Während Fethullah Gülen nicht bestreitet, dass das Tragen des Kopftuches ein nachrangiges, islamisches Gebot (wörtl. teferruat, Detail, Einzelheit) sei, so hat er doch stets die individuelle Verantwortung der Glaubenden betont und zudem betont, dass der Erwerb von Bildung zu den höchsten Geboten der Religion zu zählen sei.4 Entsprechend finden sich – zum Ärger religiöser Extremisten – in der Gülen- Bewegung heute sowohl Musliminnen mit und ohne Kopftuch, die aber das gemeinsame Bekenntnis zum Bildungserwerb vereint.

Auch den Begriff des Dschihad (als Anstrengung für Gott) spitzte Gülen vor diesem Hintergrund zu: Als „großer“ Dschihad sei die umfassende Bildung der eigenen Persönlichkeit, als „kleiner“ Dschihad der Einsatz für die Bildung anderer und die Religionsfreiheit (!) zu verstehen.5 In diesem Sinne würdigen Bücher6, Websites und Videos der Bewegung als Vorbilder bis über den Tod: Lehrer, wie zum Beispiel Adem Tatli, der bei einem Autounfall verunglückte und dessen letzter Wunsch in der Bestattung neben seiner geliebten Schule in der Mongolei bestand.7

Dieses friedliche Verständnis des Dschihad arbeitet Fethullah Gülen auch in seiner scharfen Antwort auf den Terror und Selbstmordattentate von Al-Qaida aus: „Wir sagen: Das ist nicht der Islam. Bin Laden hat die Logik des Islams durch seine eigenen Gefühle und Wünsche ersetzt. Er ist ein Scheusal, genau wie die Leute, die sich um ihn geschart haben. Und auch all jene, die ihnen ähneln, sind nichts anderes als Scheusale.“ Und auch aus dieser Verurteilung folgt für ihn Selbstkritik und der Aufruf zu Bildung und Erziehung: „Keine Religion billigt es, zum Erreichen eines Zieles einen Menschen zu töten. Natürlich muss man sich die Frage stellen: Welche Bemühungen haben wir unternommen, um unsere Kinder zu vollkommenen Menschen zu erziehen? Welche Werte haben wir ihnen mit auf den Weg gegeben, an denen sie sich festhalten können? Haben wir sie so verantwortungsvoll erzogen, dass wir nun von ihnen erwarten dürfen, sich nicht an terroristischen Aktivitäten zu beteiligen?“8

Gülen leugnet nicht, dass gegen Angreifer und Terroristen auch staatliche Gewalt ergriffen werden müsse, aber dabei sollten demokratische und menschenrechtliche Standards keinesfalls aufgegeben werden. Letztlich werde nur die umfassende Bildung der Menschen Frieden und Freiheit sichern.9

Entwicklungsoptimistik statt Apokalyptik

Auffällig ist schließlich, dass Fethullah Gülen auf apokalyptische Szenarien verzichtet, wie sie von religiösen, politischen und wissenschaftlichen Akteuren gerne verwendet werden, um ihren Forderungen Dringlichkeit zu verleihen (Das Ende naht / Der Feind rüstet / Der Wald stirbt usw.)10, sondern eine dezidiert optimistische Zukunftsschau entwirft, in der ausgehend vom Einzelnen (nicht dem Kollektiv oder dem Staat) Wissenschaft und Religionen interagieren:

„Das Individuum wird aus dem Schatten treten und lernen, sein Potential zu nutzen. Die Menschen werden sich mit den Flügeln der Liebe, des Wissens und des Glaubens zu neuen Höhen emporschwingen und versuchen, zu vollkommen erhabenen Menschen zu werden.

In diesem neuen Frühling, der nicht zuletzt von Wissenschaft und technologischem Fortschritt geprägt sein wird, werden die Menschen verstehen, dass die heutige Stufe von Wissenschaft und Technologie der Phase ähnelt, in der ein Kind zu krabbeln beginnt. Reisen in den Weltraum beispielsweise werden dann so alltäglich sein wie heutzutage Reisen in ferne Länder. Reisende auf dem Weg zu Gott, die sich aufopfern und keine Zeit für Feindseligkeiten haben, werden die Inspirationen ihrer Seele in andere Welten tragen. Dieser Frühling wird auf den Grundmauern von Liebe, Barmherzigkeit, Dialog, Akzeptanz, gegenseitigem Respekt, Recht und Gerechtigkeit aufbauen.

Die Menschheit wird ihr wahres Wesen erkennen, und Frömmigkeit und Güte, Rechtschaffenheit und Tugend werden die treibenden Kräfte dieses Frühlings sein. Was immer auch geschehen mag – früher oder später wird die Welt auf diesen Pfad finden. Niemand kann das verhindern.“11

Entsprechend dieses Optimismus hat Fethullah Gülen nicht nur, wie bereits beschrieben, den Terrorismus scharf verurteilt, sondern sich auch mehrfach religiös, historisch und politikwissenschaftlich argumentierend gegen die apokalyptischen Thesen Huntingtons vom „Clash of Civilisations“ gewandt.12

Die Gülen-Bewegung – Vergleichbar mit dem Pietismus

Einer Beobachtung Max Webers zum „protestantischen Arbeitsethos“ und dem wirtschaftlichen Erfolg der religiösen Netzwerke folgend, haben Sozial- und Politikwissenschaftler die Gülen-Bewegung mit dem Calvinismus verglichen.13

Aus religionswissenschaftlicher Perspektive möchte ich jedoch anmerken, dass die Strukturen der Bewegung zum evangelischen Pietismus sehr viel größere Schnittmengen aufweisen: So hat die Gülen-Bewegung im Kontrast zu Calvin keine Kirchenstrukturen entworfen, keine liturgischen oder rituellen Änderungen eingeführt noch politische Herrschaft errungen. Vielmehr erkannten die Anhänger Gülens ebenso wie die frühen Pietisten die jeweilige Obrigkeit und Staatskirche kritisch-konstruktiv, aber gehorsam an, gründeten keine eigene Konfession und errichteten keine eigenen Gotteshäuser. Sie bestanden lediglich darauf, sich auch in eigenen, erbaulichen Lese- und Gesprächszirkeln (bei den Pietisten „Stund“, in der Gülen-Bewegung „Sohbet“) austauschen zu können und auf Basis dieser Netzwerke im Rahmen der Gesetze private Initiativen etwa in Wirtschaft und Bildung entfalten zu können. Das ehrenamtliche und finanzielle Engagement der Einzelpersonen in diesen dezentralen Netzwerken und deren entsprechender Erfolg, der wiederum neue Anhänger bildete und anzog, erklärt sowohl die Dynamik des frühen Pietismus wie der heutigen Gülen-Bewegung.14

Die enormen Erschütterungen in Religion, Familie und Identität, die der oft in ein bis zwei Generationen erfolgende Übergang von der agrarisch-dörflichen zur marktwirtschaftlich-städtischen Lebenswelt mit sich bringt, balancierten sowohl Pietisten wie auch die Anhänger der Gülen-Bewegung durch eine intensive, auch emotionale Spiritualität. Der Glaubende soll sein Leben strikten Leistungsanforderungen unterwerfen und auch die aus dem Bildungsaufstieg erwachsene Autorität von jüngeren Männern und Frauen anerkennen. Neben diese Betonung der Rationalität und Individualität tritt zugleich aber auch die Möglichkeit, im religiösen Rahmen Gefühle zuzulassen, Freude und Tränen zuzulassen und die inneren und äußeren Konflikte in einer intensiven Liebes- und Vertrauensbeziehung zu Gott und seinen Geschöpfen zu ertragen.15

Wie damals die Pietisten sieht sich die Gülen-Bewegung massivem Misstrauen, Verschwörungstheorien und Verfolgungen durch religiöse Konkurrenten und autoritäre Staatseliten ausgesetzt: Bleiben sie unter sich, wird ihnen Abschottung und „Parallelgesellschaft“ vorgeworfen, bringen sie sich ein, lautet der Vorwurf auf „Unterwanderung“.16 Ebenfalls analog zum Pietismus wuchs jedoch auch vielerorts Respekt und Anerkennung für die sichtbaren Erfolge, die diese vermeintlichen Sektierer für Bildung und Entwicklung leisteten, ohne dabei auf einen politischen Umsturz hin zu arbeiten.

Nicht nur in der Türkei selbst, sondern inzwischen in Dutzenden Staaten weltweit hat die Gülen-Bewegung so Diskriminierungen und vereinzelt gar Verfolgungswellen überstanden und sich inzwischen von den USA über die GUS-Nachfolgestaaten bis nach Indonesien und Südafrika wachsendes Vertrauen erworben. Ihr Wirken wird weltweit zunehmend als stabilisierender Beitrag zu Bildung, zivilgesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Entwicklung sowie als friedlich-gesetzestreue Alternative zu extremistischen Strömungen bewertet.17

Natürlich aber gibt es bei allen Parallelen auch Unterschiede: So erlauben die modernen Medien Fethullah Gülen und der Gülen-Bewegung eine sehr viel schnellere und globalere Kommunikation, als sie frühe Pietisten wie August Hermann Francke (1663-1727), dessen Bewegung ebenfalls Waisenhäuser, Armen-, Bürger- und Mädchenschulen errichtete, zu ihrer Zeit erreichen konnten. Im Unterschied zum Großteil des Pietismus glauben Anhänger der Gülen-Bewegung zudem nicht, das Andersglaubende durch Mission „errettet“ werden müssten, sondern hoffen auf wachsende Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen auf Basis von Dialog und Zusammenarbeit gerade auch auf dem Gebiet von Bildung und Wissenschaft. Und während der Pietismus schließlich vor der konstruktiven Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlich-philosophischen Weltbild zurück schreckte, entsprechend viele seiner selbst gebildeten Anhänger schließlich wieder verlor und sich von einer ökumenisch wirksamen Reformbewegung zu einer „frommen Subkultur“ zurück entwickelte18 – hat die Gülen-Bewegung diese Wegentscheidung noch vor sich.

Die Herausforderung der Evolutionstheorie

Von allen wissenschaftlichen Großtheorien fordert keine die religiösen Überlieferungen so sehr heraus wie die Evolutionstheorie. Praktisch von Anfang an wurde sie von Gegnern der Religionen als vermeintliche Überbietung des Glaubens gefeiert und für säkulare Ideologien wie den menschenverachtenden Sozialdarwinismus, für Eugenik (die Ermordung behinderter Menschen), Rassismus, Nationalismus und Sozialismus vereinnahmt. Extreme Vertreter des so genannten „neuen Atheismus“ knüpfen an diesen Missbrauch der Evolutionstheorie an, indem sie – ohne empirische Belege und übrigens im kompletten Bruch mit der Evolutions-logik selbst, wonach sich Veranlagungen grundsätzlich über Erfolg und Nutzen entwickeln – Religiosität und Spiritualität als unnatürlich, schädlich und pauschal gefährlich denunzieren. Auch christliche Theologen, die die Evolutionstheorie im Grundsatz anerkennen, stellen sich diesem Missbrauch der Evolutionsforschung zunehmend und mit guten Argumenten entgegen.19

Zudem hielt auch Charles Darwin selbst, der nach dem qualvollen Tod seiner Tochter Anna zunehmende Glaubenszweifel erlitt, stets daran fest, dass Evolutionstheorie und Gottesglauben vereinbar seien.20 Der leider wenig bekannte Mitentdecker der Evolutionstheorie, Alfred Russel Wallace, blieb bis an sein Lebensende ein zutiefst gläubiger Mensch. Der fromme Jesuitenpater und Naturwissenschaftler Teilhard de Chardin wurde wegen seiner Aussagen zur Vereinbarkeit von Evolutionstheorie und Glauben von seinem Orden nach China versetzt – wo er prompt wegweisende Entdeckungen zu Homo erectus machte.21 Inzwischen aber erkennt auch die katholische Kirche die wissenschaftliche Geltung der Evolutionstheorie an. In der neueren Zeit haben sich weitere, führende Biologen wie der Leiter des erfolgreichen Humane Genome Project Francis Collins zu ihrem Gottesglauben bekannt.22

Die vielleicht deutlichste Äußerung aber tätigte einer der bedeutendsten Biologen des 20. Jahrhunderts, Theodosius Dobzhansky, in seinem Essay „Nichts in der Biologie macht Sinn außer im Licht der Evolution“. Er kritisiert die Gottesvorstellungen islamischer und christlicher Fundamentalisten als „blasphemisch“ – Gotteslästerung -, da sie auf eine Leugnung von Wissenschaft und letztlich einem täuschenden oder unfähigen (ständiger Nachbesserungen an der Schöpfung bedürftigen) Gottesbild hinaus liefen.

Dagegen erklärte er: „Es ist falsch, Schöpfung und Evolution als sich ausschließende Alternativen zu betrachten. Ich bin ein Kreationist und ein Evolutionist. Die Evolution ist Gottes, oder der Natur Weg der Schöpfung. Die Schöpfung ist nicht ein Ereignis, das 4004 vor Christus geschah; sie ist ein Prozess, der vor 10 Milliarden Jahren begann und immer noch unterwegs ist.“23

Die moderne Evolutionsforschung konzentriert sich über religiöse und weltanschauliche Gräben hinweg längst nicht mehr auf Konflikt- und Gewaltgeschichten, sondern erkundet in interdisziplinären Teams, wie sich Kooperation, Liebe und – auch Religiosität entwickelt haben.24 Wir erforschen heute, warum die Haltung zur Religiosität „eines der wichtigsten Elemente in unser aller Leben“ ist und „von keinem wie auch immer gearteten Element ersetzt werden“ kann. Wir vermuten nicht mehr, sondern wir beobachten und messen in Studien und Experimenten, wie Religion „unser individuelles, häusliches und gemeinschaftliches, aber auch unser materielles Leben“ ordnet – und sich in weltweit allen freiheitlichen Gesellschaften Mitglieder von Religionsgemeinschaften durchschnittlich zu glücklicheren Menschen mit durchschnittlich mehr Kindern (und also einer erfolgreichen Weitergabe auch ihrer genetisch-natürlichen, religiösen Veranlagungen) entfalten. Wir beschreiben, dass der „Glauben an die Existenz eines Wesens, das den Menschen sieht und kontrolliert [… ] dem Menschen angeboren“ ist.25 Denn während Menschen „vor den Gesetzen und der Rechtsprechung dieser Welt zu fliehen [vermögen]; dem prüfenden Blick Gottes können wir uns jedoch zu keiner Zeit entziehen.“26

Und ich betone diese Erkenntnisse der Evolutionsforschung zur Religiosität (Evolutionary Religious Studies) deswegen so ausführlich, weil sie den soeben zitierten Beobachtungen von Fethullah Gülen zur Funktion von Religion bis in Details hinein entsprechen. Sie könnten also eine Einladung zum Dialog zwischen Wissenschaft und Religion(en) auch auf diesem Gebiet sein.27

Die Gülen-Bewegung und die Evolutionstheorie

Bisher aber hat sich die Gülen-Bewegung dem offenen Dialog mit der Evolutionsforschung noch nicht gestellt. In einem Artikel vom Januar 2006 kritisiert Fethullah Gülen „den Darwinismus“, wobei er hier nicht zwischen der wissenschaftlichen Forschung und oft ideologischen Deutung differenziert.

Vielmehr betrachtet er „die Akzeptanz von Evolution als eine Säule des modernen Materialismus“, wie ihn Marx und Engels vertreten hätten. Gülen erkennt das hohe Alter der Erde und auch die Datierung von Fossilfunden sowie die sog. Mikroevolution innerhalb der Arten an, bezweifelt aber den Übergang der Arten und daher auch die gemeinsame Abstammung von heutigen Menschen und Affen. Schließlich bekennt er sich zu „Intelligent Design“, einer sanfteren Variante des fundamentalistischen und wissenschaftsfeindlichen Kreationismus. Allerdings hält er das Tor für weitere Gespräche offen, indem er einräumt, dass viele Prozesse einfach „noch nicht verstanden“ seien und dass „Darwin ein großer und begabter Wissenschaftler“ war.28 Und auch an anderer Stelle plädiert er ausdrücklich für das Gespräch mit Biologie und Anthropologie – die ohne die Erkenntnisse aus der Evolutionsforschung überhaupt nicht mehr darstellbar sind.29

Aus religionsrechtlicher Perspektive ist die Haltung zur Evolutionstheorie nur ein Detail: Sie in Teilen oder vollständig zu leugnen ist Bestandteil der Religions- und Meinungsfreiheit und die Bildungseinrichtungen der Gülen-Bewegungen orientieren sich an den jeweiligen, fachlich verbindlichen Lehrplänen. Würde allerdings auf Dauer der konstruktive Dialog mit der Evolutionsforschung verweigert, fiele die Gülen-Bewegung hinter ihre bisher erreichten Standards zurück. Würde sie darauf bestehen, dass die Evolutionstheorie und Gottesglaube unvereinbar sind, so würde sie zudem paradoxerweise genau jene Religionskritikern bestätigen, die eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Religion(en) und Wissenschaft behaupten. Vor allem aber würde sie ihre jüngere Generation in Nöte stürzen, die bereits so viel wissenschaftliche Bildung erworben hat (nicht selten in Bereichen der Biologie oder Medizin), dass sie den Erklärungswert der Evolutionstheorie erkennt und nach Wegen sucht, diesen mit ihrem Glauben zu verbinden.

Persönlich habe ich so im Kontakt mit jungen Anhängern der Gülen- Bewegung bereits die Erfahrung gemacht, dass diese sich Bücher zur Evolutionsforschung signieren lassen – aber auch bedauern, darüber in der Bewegung kaum offen sprechen zu können. Es gab Vortragseinladungen zur Evolutionsforschung, die dann kurzfristig zu „weniger strittigen Themen“ umgebogen wurden. Es gab Interviews mit und Zusagen zu Buchrezensionen von Medien der Gülen-Bewegung – die dann aber nie abgedruckt wurden.

Auch von Kolleginnen und Kollegen konnte ich selbst im Darwinjahr keine sachlichen Darstellungen in Medien der Gülen-Bewegung finden – dafür u.a. einen Zaman-Artikel vom 14. Februar 2009, der aktuelle Diskussionen in der Evolutionsforschung inhaltlich unsauber und unter der Überschrift „Ist die Darwin-Theorie am Ende?“ wiedergibt.30 Nicht böser Wille, aber Unsicherheit in der Bewegung zu diesem Thema wird zunehmend sichtbar – es stehen Weichenstellungen an, die nicht nur die Gülen-Bewegung selbst betreffen.

Fazit

Für die Förderung von Menschenrechten, Demokratie, vor allem aber auch der Bildung, Wissenschaft und des interreligiösen Dialoges sind die Lehren von Fethullah Gülen und die zivilgesellschaftlichen Initiativen der Gülen-Bewegung ein Glücksfall. Indem sie sich nach Jahren einzigartig dynamischer und erfolgreicher Arbeit nun auch selbst der wissenschaftlichen Reflektion und Begutachtung öffnen, leisten sie einen weiteren Beitrag zu Transparenz und religionssoziologischer Forschung. Sie bestärken damit das Vertrauen von Demokraten, Reformern und Vertretern anderer Religionen weltweit, das sie sich gegen nationalistische und extremistische Verschwörungstheorien zu Recht erworben hat.

„Dank der Bemühungen von christlichen und muslimischen Theologen und Wissenschaftlern deutet heute einiges darauf hin, dass der Jahrhunderte währende Streit zwischen Wissenschaft und Religion beigelegt oder zumindest seine Absurdität eingeräumt werden kann.“, formulierte Fethullah Gülen optimistisch 31– und hat selbst gemeinsam mit seinen Anhängern viel dazu beigetragen, dass dieser Optimismus begründet erscheint. Heute erwerben in über 2.000 Bildungseinrichtungen, darunter sieben Universitäten, Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten in mehr als 90 Nationen Bildung und Wissen, die ihnen ohne das ehrenamtliche und finanzielle Engagement der Gülen-Bewegung nicht gleichermaßen zugänglich gewesen wären. Hinzu kommen Zeitungen, Fernseh- und Radiosender sowie zahlreiche Dialoginitiativen, die für Frieden auf der Basis von freiheitlicher Demokratie, privatwirtschaftlichem und zivilgesellschaftlichem Engagement sowie gegenseitigem Respekt werben.32

Ohne Zweifel gehört die Gülen-Bewegung am Beginn des 21. Jahrhunderts zu den global produktivsten islamischen und interreligiösen Akteuren, die längst anderen als Vorbild und Ideengeber dient. Von großer Bedeutung wird sein, ob sie den Mut findet, auch aktiv den Dialog mit der Evolutionsforschung zu suchen. Wird die Gülen-Bewegung hier ihren Idealen der Vereinbarkeit von Religion & Wissenschaft gerecht werden? Oder wird sie doch hinter ihre eigenen Überzeugungen zurück fallen? Wird sie ihre Balance zwischen Spiritualität und wissenschaftlicher Bildung halten können oder sich schließlich, wie ja auch die erste Welle des frühen, evangelischen Pietismus, angesichts der Dynamik der Naturwissenschaften wieder zu einer „frommen Subkultur“ zurück wenden? Für die Entwicklung des Islam und unserer globalen Kultur ist das eine nicht unerhebliche Frage. Wir dürfen gespannt sein.

Dr. Michael Blume, geb. 1976, studierte Religionswissenschaft an der Universität Tübingen, (Magisterarbeit über die Identitätsarbeit junger Muslime in D.), wo er auch über Religion & Hirnforschung promovierte. Lehraufträge u.a. in Tübingen, Leipzig, Heidelberg. 2009 erschien von ihm und Rüdiger Vaas: Gott, Gene und Gehirn. Was Glaube nützt. Die Evolution der Religiosität. Hirzel 2009.

Blume war Gründungs- und ist Ehrenvorsitzender der Christlich-Islamischen Gesellschaft (CIG) Region Stuttgart e.V. Beruflich ist er in der Grundsatzabteilung des Staatsministeriums Baden-Württemberg tätig.

Homepage: www.blume-religionswissenschaft.de

Fußnoten, Literaturliste:

1

Zur türkischen Republik: Rainer Hermann: Wohin geht die türkische Gesellschaft? Dtv 2008

2

Fethullah Gülen: Hin zu einer globalen Kultur der Liebe & Toleranz. Fontäne 2006, S. 319 f.

3

Vgl. z.B. Michael Satlow: Jewish Knowing. Monism and Its Biological Implication. in: Rick Goldberg (Hrsg.): Judaism in Biological Perspective. Paradigm 2009, S. 18 – 41

4

Fethullah Gülen im Interview mit Ertugrul Özkün. Hürriyet 23.01.1995, vgl.

http://tr.fgulen.com/content/view/2257/5/

5

Asma Afsaruddin: Striving in the Path of God – Fethullah Gülen’s Views on Jihad. in: Muslim World in Transition.

Leeds Metropolitan University Press 2007, S. 494 – 502

6

z.B. Harun Tokak: Öden Giden Atlilar, Istanbul 2006

7

vgl. Marcia Hermansen: The Cultivation of Memory in the Gülen Community. in: Muslim World in Transition, Leeds Metropolitan University Press 2007, S. 60 – 76

8

Gülen 2006, S. 233 / 234 (Aus einem mehrteiligen Zaman-Interview im März/April 2004)

9

Gülen 2006, S. 305 ff.

10

Vgl. auch Alexander-Kenneth Nagel: Europa wider den Antichrist. Politische Apokalyptik zwischen Innovation und Institutionalisierung. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 08/2, S. 133 – 156

11

Gülen 2006, S. 288

12

z.B. Gülen 2006, S. 315 ff.

13

z.B. Mustafa Akyol: What made the Gülen Movement possible? – Incorporating Capitalism. in: Muslim World in Transition, Leeds Metropolitan University Press 2007, S. 29 / 30

14

vgl. Hans Küng: Das Christentum – Eine neue Reformation: Der Pietismus. Piper 1999, S. 713 ff. und Helen Rose Ebaugh, Dogan Koc: Funding Gülen-Inspired Good Works: Demonstrating and Generating Commitment to the Movement. in: Muslim World in Transition 2007, Leeds Metropolitan University Press 2007, S. 539 ff.

15

z.B. Gülen 2006, S. 194 ff.

16

Zu entsprechenden Vorwürfen in Deutschland vgl. Michael Blume, Fethullah Gülen erhält Green Card der USA, Zaman Avrupa 2008 (deutsch / türkisch, auch online)

17

Berna Turam: The politics of engagement between Islam and the secular state: ambivalences of civil society.

British Journal of Sociology 2004, Vol. 55, Issue 2

18

Küng 1999, S. 719

19

z.B. Richard Schröder: Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen. Herder 2008

20

Randal Keynes: Annies Schatulle. Charles Darwin, seine Tochter und die menschliche Evolution. Argon 2002

21

Amir Aczel: The Jesuit & The Skull. Teilhard de Chardin, Evolution, and the Search for Peking Man. Riverhead 2007

22

Francis Collins: The Language of God. Free Press 2006

23

Theodosius Dobzhansky: Nothing in Biology Makes Sense Except in the Light of Evolution. The American Biology Teacher 35. 1973, S. 125-129. (Auch online)

24

z.B. David Sloan Wilson: Darwin’s Cathedral. Evolution, Religion, and The Nature of Society. University of Chicago Press 2002

25

vgl. Michael Blume: Homo religiosus. in: Zum Glauben geboren? Forscher ergründen die Evolution der Religion, Gehirn & Geist 4/2009, S. 32 ff. (Artikel auch online)

26

Alle Zitate aus: Fethullah Gülen 2006, S. 300 / 301

27

Eine Übersicht über Forschungsstand und –diskussionen der evolutionären Religionsforschung in: Rüdiger Vaas, Michael Blume: Gott, Gene und Gehirn. Warum Glaube nützt. Die Evolution der Religiosität. Hirzel 2009

28

Fethullah Gülen: What is the Reason of the Persistence of Darwinism in the General Culture of the Masses, Though Many of Darwin’s Hypotheses Have Been Challenged and Even Disproved?, online seit 05. Januar 2006

29

z.B. Gülen 2006, S. 307

30

Zaman 14.02.2009: Darwin teorisi sona mi erdi? Online:

http://www.zaman.com.tr/haber.do?haberno=815228&title=darwin-teorisi-sona-mi-erdi

31

Gülen 2006, S. 287

32

Helen Rose Ebaugh, Dogan Koc: Funding Gülen-Inspired Good Works: Demonstrating and Generating Commitment to the Movement. in: Muslim World in Transition 2007, Leeds Metropolitan University Press 2007, S. 540